Illegal im eigenen Land
Von Frauke Hunfeld und Nele (Fotos)
Natürlich weiß sie, dass verboten ist, was sie macht. Wer wüsste das besser als sie. Wenn es nur um sie ginge, sie hätte vielleicht längst aufgegeben.
Aber es geht nicht um sie. Es geht um ihre Kinder. Ihre und seine Kinder.
Ihr Deckname ist graue Maus. In der Öffentlichkeit wird sie zu Frau Jedermann. Eine Person, die nur flüchtige Bilder hinterlässt, wie Regen auf einer Fensterscheibe.
Freundlich, aber nicht zu freundlich, still, aber nicht zu still, hübsch, aber nicht zu hübsch.
Wie hieß sie noch gleich?
Sie nennt sich Kerstin Lehmann. Oder Maria Anders. Manchmal Susanne Gerne. Selten Anna Schlecht. Sie steht auf den Fahndungslisten Europas, und ihr Foto ist in den Polizeicomputern. Sie wird gesucht, weil sie Kinder entführt hat. Ihre eigenen.
Mit ihnen ist sie auf der Flucht, seit jenem Tag vor über dreieinhalb Jahren, dem Tag vor Heiligabend. Ohne Geld, ohne Papiere, illegal im eigenen Land.
An jenem Tag wollte Kerstin Lehmann gerade den Baum schmücken, als die Gerichtsvollzieherin klingelte, um Lukas und seine kleine Schwester Lena zu beschlagnahmen. Sie brachte einen Beschluss mit, ein paar kräftige Männer und einen Schlosser zum Türaufbrechen.
Die zwei und drei Jahre alten Kinder waren gerade mit Opa auf dem Spielplatz. Kerstin Lehmann verhandelte. In vier Stunden wollte die Gerichtsvollzieherin wieder da sein.
Sie raffte nur ein paar Sachen zusammen. Ein bisschen Kleidung, ein bisschen essen, zwei Schmusetiere. Sie versuchte, nicht in Panik zu geraten. Sie starrte durch die Gardine. Wartete da draußen jemand?
Damals hoffte sie noch: nur ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen verschwinden. Es wird schon eine Lösung geben. Dass sie für Jahre auf der Flucht sein würde, ahnte sie nicht.
Manche halten sie für verantwortungslos, manche für verrückt. Manche bewundern ihren Mut, ihren Eigensinn. Manche denken, da wird schon was dran sein, wenn das Gericht dem Vater Recht gibt, vielleicht war sie ja eine Rabenmutter. Alle fragen sich: Was wird aus den Kindern?
Kinder kann man nicht teilen. Und in die Zukunft kann man nicht sehen. Wer weiß schon, wie Lukas und Lena das alles verkraften. Und ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie beim Vater geblieben wären. Sie sind zu klein, um zu verstehen, was läuft. Sie sind zu groß, um nichts mitzubekommen.
Sie war ja eine ganz normale junge Frau gewesen. Mit Einbauküche und Hausratversicherung, mit Schutzhülle für das Impfbuch und einem Ordner für wichtige Post. Sie hatte keine Erfahrung mit einem Leben als Thelma oder Louise – gesucht, gejagt, ohne Geld, ohne Zukunft.
Es ist ein Drama, wie es sich hunderttausend Mal abspielt, jedes Jahr. Mann und Frau lieben sich nicht mehr. Aber beide lieben die Kinder. Manchmal findet sich eine Lösung. Manchmal wird erbittert gekämpft. Aber diesmal sind die Rollen anders verteilt. Dass eine Mutter das Sorgerecht verliert, ist selten. Dass eine Frau mit den Kindern verschwindet, über solange Zeit, gab es noch nie.
Weihnachten verbrachten sie im Frauenhaus. Der Weihnachtsmann kam einen Tag später zu Lukas und Lena. Er muss wohl aufgehalten worden sein, sagte die Mutter, und vielleicht hatte er sie auch nicht gleich gefunden. Er legte ein Überraschungsei unter den Tannenbaum.
Kerstin Lehmann kaufte sich eine dunkle Brille gegen die Angst. Selten verließ sie das Haus. Sie weinte viel. Wenn sie mit den Kindern auf dem Spielplatz war, vermied sie Gespräche mit anderen. Nächtelang lag sie wach und dachte nach, was war, was werden wird.
Sie war 20 Jahre alt, als sie Thüringen verließ und 1989 in den Westen ging. In der DDR hatte sie Abitur gemacht und Programmiererin gelernt. Dann rückte diese bunte, weite Welt in greifbare Nähe, und sie griff zu. In Hessen fand sie Arbeit, Freunde und fünf unbeschwerte Jahre.
Ein Autounfall riss sie aus diesem Leben. 14 Tage lag sie im Koma, mit gebrochenen Knochen, mit gequetschten Organen und geringen Überlebenschancen. Wie sie es schaffte, am Leben zu bleiben, weiß sie nicht. Aber dass das Leben ein Geschenk ist und Kämpfen sich lohnt, das lernte sie wohl in dieser Zeit.
Ihren Mann traf sie in der Reha-Klinik. Er war Pfleger, und seine ruhige Art, die im Gegensatz stand zu ihrem quirligen Wesen, zog sie an. Er stammte aus einem kleinen Dorf in Bayern, lebte dort auf dem Anwesen seiner Mutter. Die beiden wurden ein Paar, und Kerstin zog zu ihm. Über Familie hatte sie nie nachgedacht, aber der Unfall hatte eben vieles verändert.
Welten prallten aufeinander.
Die gesellige, selbstbewusste Frau aus dem Osten zog zur bäuerlichen, zurückgezogen lebenden Familie ihres Mannes. Er wohnte im ausgebauten Dach des Elternhauses, die Schwestern, beide schon Ende 30, bewohnten immer noch ihre Kinderzimmer. Wenn die eine mal einen Mann mitbrachte, habe die Schwiegermutter gesagt: Seid still, vielleicht heiratet er sie ja.
Kerstin fühlte sich nicht willkommen. Als sei sie nicht gut genug für den einzigen Sohn. Vorher hatte die Mutter für ihn gekocht, gewaschen und geputzt, und manchmal schien es ihr, als würde sie diese Aufgaben nur ungern an die neue Partnerin abtreten. Erst auf Kerstins ausdrückliches Verlangen stellte die Mutter die Putzaktionen in der Dachwohnung ein. Sie harkte die Beete nach, um die Kerstin sich gekümmert hatte, sie fegte im Flur hinterher, nichts war recht.
Als Kerstin schwanger wurde, hieß es gleich, aber sagt es keinem, ihr seid ja noch nicht verheiratet. Und erst am Tag der Hochzeit bot die Schwiegermutter ihr das Du an.
Ihre Leben passten einfach nicht zueinander. „Meine Ehe war kein Martyrium“, sagte Kerstin Lehmann. „Aber die Welt wurde jeden Tag ein Stück kleiner.“ Kerstin bat ihren Mann, gemeinsam auszuziehen. Damit ihre Familie eine Chance habe. Er sagte nicht ja und nicht nein. „Aber immer hielt er zu seiner Mutter.“
Ein Jahr wartete sie. Bedrängte ihn. Sagte, dass es so nicht weitergehe. Ihr Mann hatte inzwischen seinen Job gekündigt, der ewige Schichtdienst war ihm zu viel. Lena wurde geboren und das Geld knapper. Kerstin bat ihren Mann, wenigstens nebenher ein bisschen zu arbeiten. Schließlich versuchte sie sich im Verkauf von Mikrofasertüchern. Ende 1998 zog sie mit den Kindern nach Thüringen und reichte die Scheidung ein.
Fast 5000 Blatt Papier sind seither beschrieben worden. Vorwürfe und Gegenvorwürfe, Befangenheitsanträge, Verleumdungen, Anzeigen, Beschlüsse. Lukas und Lena müssen bei alldem irgendwie aus dem Blick geraten sein. Viel erfährt man nicht über die Kinder, seltsam blass scheinen sie durch all die farbigen Schilderungen des Ehekrieges. Sie wurden zu Papiergestalten, kleine Aktenzeichenträger, ohne Stimme, ohne Gehör.
Die erste Vorladung erhielt Kerstin Lehmann zwei Tage vor dem angesetzten Termin. Der Richter entschied, dass die Kinder bis zu einem endgültigen Beschluss in die eheliche Wohnung zurückzubringen seien, um die Kontinuität zu wahren. Weil sie ihre Kinder nicht alleine lassen wollte, ging Kerstin Lehmann mit.
Der Richter fand das eine gute Idee. Er sprach Kerstin Lehmann das Schlafzimmer zu, dem Mann das Wohnzimmer. Kleidung wusch sie in der Badewanne, denn der Raum, in dem die Waschmaschine stand, war „No go area“. Es begann ein bizarrer Wettlauf um die Gunst der Kinder. „Jeder versuchte, zuerst bei den Kindern zu sein, wenn sie nachts wach wurden, oder zuerst morgens das Frühstück zu machen. Die Kinder wurden immer verwirrter.“
Kerstin Lehmann fühlte sich wie eine Aussätzige am Hof einer feindlichen Macht. Aber sie wollte durchhalten.
Weil ihr Mann ihr verbot, mit den Kindern ihre Eltern zu besuchen, und diese Hausverbot auf dem Hof des Mannes hatten, klagte sie Umgang ein für ein Wochenende im Monat, das sie in Thüringen verbrachte.
„Ich hatte von Anfang an keine Chance“, sagt Kerstin Lehmann heute. Ein Gutachter kam und schilderte den Vater in freundlichen Tönen. Er sei in der Küche angetroffen worden, und er habe Lukas stets zum Kindergarten gebracht. Dass er nicht arbeitete, nahm der Gutachter als Beleg dafür, dass er alle Zeit den Kindern widmete.
Kerstin Lehmann lacht bitter: „Das ein Mann in der Küche angetroffen wird, scheint hier auf dem Land Sensation, und das er seinen Sohn zum Kindergarten bringt, weil die Mutter den kleinen Säugling versorgt, auch. „Das ich ihm den Erziehungsurlaub für den Großen überschrieben hatte, damit er beim Arbeitslosengeld nicht gesperrt wird, hat der Gutachter nicht vermerkt. Und dass der Verkauf von Mikrofasertüchern für mich wohl kaum der Beginn einer großen Karriere war, sondern die pure Geldnot mich zwang auch nicht.“
Dass der Vater seine Kinder liebte und sie ihn, dass sich beide um Lukas und Lena gekümmert haben, jeder auf seine Art, das bestreitet auch Kerstin Lehmann nicht.
Trotzdem fürchtete sie immer mehr,, dass die Kinder gegen sie aufgehetzt würden. „Einmal erzählte mir Lukas, bei der Oma solle er immer beten – für alle, nur für die böse Mama nicht. Die zwei wurden mit Spielzeug überhäuft und mit Eis und Fruchtzwergen vollgestopft.“
Der Richter entschied zu Gunsten des Vaters. Er berief sich auf das Gutachten und auf den Bericht des Jugendamtes. Dessen Vertreter hatten die Kinder allerdings gar nicht gesehen. Der Gutachter hatte Lukas gefragt, wen er lieber möge: „Den Papa“, habe der dreijährige gesagt. Die Mami sei böse, die Großeltern in Thüringen seien böse, nur der Papi sei lieb und die Oma Frieda.
Dass der Gutachter in Sorgerechtsverfahren stets zugunsten der Väter votierte und deshalb in der Region umstritten ist, war dem Richter bekannt. Einen anderen Sachverständigen beauftragte er jedoch nicht, denn das Gutachten entspreche den verlangten Kriterien. Im Übrigen seien Zweifel an der Neutralität des Sachverständigen erst erhoben worden, als das Gutachten fertig gewesen sei. Mehr darf er zu dem Verfahren nicht sagen. Genau wie der Gutachter, der auf seine Schweigepflicht verweist. Die Anfragen des stern an den Vater blieben ohne Antwort.
Das Oberlandesgericht wies Kerstins Lehmanns Beschwerde zurück.
Angehört wurde sie nicht, ein neues Gutachten gab es nicht, auch die Kinder hatte niemand gesehen.
Noch einmal schrieb Kerstin Lehmann ihrem Anwalt: Natürlich habe auch sie Fehler und sich sehr wohl überlegt, ob die Kinder nicht auf dem Hof des Vaters ein besseres Leben führen würden. Aber sie glaube, dass den Kindern Unrecht geschehe. Dass zum Leben Selbständigkeit gehöre, die der Vater, der vom Einkommen seiner Mutter lebt und von ihr kochen, waschen und putzen ließe, dies nicht vorlebe. Dass sie nicht wolle, das Lukas und Lena in der Isolation dieser Großfamilie aufwachsen müssten. Dass die verzwickte Lage von gegenseitigen Abhängigkeiten jeden freien Willen unterbinde, dass der Zusammenhalt zur unerträglichen Enge erstarrt sei. Der Anwalt formulierte die Beschwerde, aber es änderte nichts. Kerstin Lehmann verlor den Kampf. Aufgeben wollte sie trotzdem nicht.
Einige Monate nach der Flucht mussten die drei das Frauenhaus verlassen. Es war mittlerweile Frühling. Sie kamen bei Bekannten unter, dann fand sich ein Anbau mitten im Wald. Sie zogen hin. Kerstin Lehmann hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte: „Ich dachte nur an die nächsten 24 Stunden. Du kriegst sie irgendwie satt, du kriegst die Zeit herum, du wirst irgendwo Schuhe auftreiben, und morgen ist ein neuer Tag. Wir haben lange Spaziergänge gemacht, die Kinder bauten Buden und Lager, aber ich fühlte mich oft wie tot.“
Dann kam der Herbst und mit ihm die Kälte. Ihr Versteck im Wald hatte keine Heizung. Sie musste einen neuen Unterschlupf suchen. Von ihren Eltern, mit denen sie über Umwege Kontakt hielt, wusste sie, dass man wirklich nach ihr fahndete. Ihre Post war beschlagnahmt, die Wohnung der Eltern durchsucht worden. Nach der Hochzeit einer Kusine gab es eine Polizeikontrolle im Dorf. Ein Verwandter wurde an der Grenze gestoppt und befragt. Sie durfte keinen Fehler machen.
Die Kinder begannen, Fragen zu stellen. Sie lernten Schweigsamkeit. Sie fragten auch manchmal nach Papa. Das schmerzte. Dass sie ihren Vater nun gar nicht mehr hatten, dass hätte sie nie gewollt. „Später“, tröstete sie.
Eine Weile noch zogen sie durch Deutschland. Kamen mal hier unter, mal dort. Immer angwiesen auf die Gunst anderer. Immer in Angst, dass sie einer verrät. Immer mit gesenkten Köpfen, wenn irgendwo die Polizei vorbei fuhr. Bloß nicht auffallen. Bloß keine Angst zeigen, bloß keinen Mut. Wie nur sieht ein normales Gesicht aus?
Kerstin Lehmann wusste, das ist kein Zustand. Der Weg ins Ausland ist durch den Haftbefehl versperrt.
Aber wo ist ein sicherer Platz?
Sie lebt mitten unter uns. Über einen Strohmann hat sie eine Wohnung angemietet. Die Miete lassen die Eltern ihr auf verschlungenen Wegen zukommen. Mehr können sie nicht tun, denn mehr haben sie selbst nicht.
Die Mutter besorgt Lebensmittel aus der Armenspeisung, Reste aus Krankenhäusern und Restaurants. Kleidung bekommt sie von Freunden oder aus der Kleiderkammer einer wohltätigen Organisation. Spielzeug organisiert sie auf Flohmärkten oder bastelt es. Sie fahren oft raus in die Natur, immer mit Fahrrädern, denn Geld für den Bus haben sie nicht. „Dafür, dass es uns Scheiße geht, geht es uns richtig gut“, sagt Kerstin Lehmann.
Um Tankstellen macht sie einen Bogen. Sparkassen betritt sie nicht mehr. Sie besitzt ohnehin weder Konto noch Auto, und sie fürchtet die Videokameras, die Kommissar Zufall spielen könnten.
Ihre Kinder sind wie alle Kinder: fröhliche kleine Racker, voller Neugier und Fragen. Dass sie anders heißen, ist ihnen egal. Ihre richtigen Namen haben sie schon fast vergessen.
Trotzdem sind die Jahre der Flucht gerade an Lukas nicht spurlos vorübergegangen. Misstrauisch wäre zuviel gesagt, aber vorsichtig ist er. Oft, bevor er redet, sucht er mit Blicken das Einverständnis seiner Mutter. Bestimmte Fragen stellt er nicht, als wolle er es lieber gar nicht so genau erfahren. Denn wer nichts weiß, der muss auch nichts für sich behalten. Und es ist schon zu viel, was der kleine Junge mit sich herumschleppt.
Das andere Kinder vielleicht mehr haben als sie, fällt den Geschwistern noch nicht so auf. Dass die Mutter es nicht so gerne sieht, wenn sie andere Kinder nach Hause einladen, akzeptieren sie noch.
Jeder Fremde ist eine Gefahr.
Kerstin Lehmann weiß sehr genau, wie fadenscheinig ihre Normalität ist. „Ein gebrochenes Bein, ein ernster Sturz, eine schlimme Krankheit, und wir fliegen auf“, sagt sie.
Beim Arztbesuch könne man noch tricksen, im Krankenhaus sei es vorbei.
Die Einschulung sei eine echte logistische Leistung. Wo bekommt man Geburtsurkunden her, die falsch sind, aber nicht gefälcht? Wie meldet man sich unter falschem Namen an? Wochenlang hat sie die Strukturen von Behörden studiert: Wer meldet wem was und warum. Es gibt immer eine Lücke.
Vielleicht ist sie groß genug für sie drei.
An den guten Tagen ist sie fröhlich und optimistisch. Es wird sich alles finden, sagt sie dann, und dass es schließlich bisher auch so war. Hat ihr damals in ihrer Geburtsstadt nicht jemand einen Zettel zugesteckt, dass sie verschwinden solle? Wären sie nicht fast schon einmal gefunden worden, wenn nicht rechtzeitig eine Warnung per Telefon gekommen wäre?
An den schlechten Tagen ist ihr klar, dass die Probleme mit den Kindern wachsen werden. Was ist, wenn die erste Klassenfahrt ansteht, was wird, wenn die anderen fragen, wo ist denn euer Vater, habt ihr keine Großeltern, keine Tanten, keine Cousins? Wo seid ihr geboren, wo kommt ihr denn her?
Dann brütet sie über einen Notfallplan, denkt über ein Tau an der Heizung nach, mit dem man sich abseilen könnte, wenn alle Wege versperrt sind.
Denn dass sie fortlaufen würden, das steht für sie außer Frage.
Und manchmal sehnt sie sich nach nichts weiter als nach Alltag. Wenn die anderen über ihre Probleme reden, denkt sie oft: Eure Sorgen möchte ich haben. So gerne. Mal wieder Angst vor dem Zahnarzt haben, den ich nicht aufsuchen kann. Ärger im Büro, das ich nicht betreten kann. Streit mit der Mutter, die ich so lange nicht gesehen habe. Wäre das schön.
Für sie jedenfalls ist in den letzten Jahren nicht viel Leben übrig geblieben. Sie lebt ohne Geld, ohne Job. Sie hat ihren Stolz abgelegt, der sie hinderte, ständig von anderen etwas anzunehmen. Zumindest im Nachhinein entkräftet sie die Vorwürfe, die man ihr gemacht hat: Sie wolle die Kinder nur aus Geldgier, sie könne sich deren Bedürfnissen nicht unterordnen, sie interessiere sich nur für die eigene Karriere. Einen Vorwurf allerdings wird sie nie entkräften: Die Kinder gehören ihr nicht. Sie haben ein Recht auf Mutter und Vater. Dieses Recht hat sie ihnen genommen.
Sie wird auffliegen. Die Frage ist nur, wann.
Niemand kann für immer verschwinden. Sie spielt auf Zeit.
Wenn beide Kinder 14 Jahre alt sind und angehört werden müssen, dann will sie sich stellen. Mehr kann sie nicht tun. Selbst wenn sie das Geld hätte, um einen Anwalt zu bezahlen, der vor dem Europäischen Gerichtshof klagen würde – sie könnte ja nicht einmal zur Verhandlung gehen.
Sie würde ja vorher verhaftet werden.
Es ist wie Schach:
Jede falsche Bewegung beendet das Spiel. Im Schach steht sie schon. Matt ist sie noch nicht.